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Schleifer Region
von Peter Milan Jahn

Schleifer Region um 1790; Karte: Iris Brankatschk

Gebiet im westlichen Teil der ehemaligen Muskauer Standesherrschaft. Die Schleifer Region zeichnet sich durch eine sprachliche (→ Schleifer Dialekt) und alltagskulturelle Sonderstellung aus, die sich im Laufe von vier Jahrhunderten im evangelischen Kirchspiel Schleife ausgeprägt hat. Dazu gehören neben Schleife die Dörfer Groß Düben, Halbendorf, Trebendorf, Mühlrose, Mulkwitz und Rohne. Sie waren bewohnt von den „Heidebauern“ der Herrschaft Muskau, die dort erst im Spätmittelalter auf überwiegend nasskalten, zur Landwirtschaft nur wenig und nicht überall geeigneten Sandböden angesiedelt wurden. Bis in die Mitte des 19. Jh. war die Muskauer Herrschaft „nach altem Herkommen“ zur kostenlosen Bereitstellung des Baumaterials für Haus und Hof verpflichtet, wobei die Gebäude in einfacher Schrotholzbauweise (→ Volksbauweise) entstanden. Eng blieb die ökonomische und emotionale Bindung zum Heidewald, von dem die Schleifer Region nach allen Seiten umgeben war. Neben der Bienenzucht waren die Holzverarbeitung, die Waldhutung sowie das Sammeln von Waldfrüchten wirtschaftlich von Bedeutung, da sie stets den ertragsarmen Ackerbau ergänzten. Im Westen und Norden verliefen Herrschafts- und Landesgrenzen – Schleife war über Jahrhunderte Zollstation –, die die naturräumliche Isolation verstärkten. Der Marktzwang nach dem 10 km entfernten Verwaltungszentrum Muskau konnte nie durchgesetzt werden. Stattdessen besuchten die Bauern mit Holz und Waldprodukten den Markt in Spremberg (→ Spremberger Region). Drei im 18. und 19. Jh. verpachtete Vorwerke der Standesherrschaft in Groß Düben, Mühlrose und Schleife sowie ein Krämereirecht der Schleifer Kretschmer (→ Kretscham) begünstigten die wirtschaftliche Autonomie der Schleifer Region.

Die Aufhebung der Erbuntertänigkeit Mitte des 19. Jh. brachte wegen des anhaltenden Bevölkerungswachstums und schlechter Abfindungen für die Waldberechtigungen kaum eine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Erst die Industrialisierung v. a. der standesherrlichen Eigenbetriebe nach 1848 trug zur Mehrung des Wohlstands und zum langsamen Kulturwandel bei. Bis zur Eröffnung der Eisenbahnstrecke zwischen Berlin und Görlitz 1868, die durch Schleife führt, nahmen Fremde die Gegend kaum zur Kenntnis. Um Erforschung und Sammlung der materiellen Volkskultur (Volkskunst), Folklore und Mythologie erwarben sich nun Ulrich Jahn und Wilibald von Schulenburg bleibende Verdienste. Inspiriert vom Pietismus waren zahlreiche autochthone Volksschriftsteller tätig, obwohl sorbisches Schreiben vor 1945 in der Volksschule nicht gelehrt wurde. Bedeutend waren dabei die Bauern Hanso Nepila, Jan Hantšo-Hano, der Kirchenvorsteher Hanzo Šymko sowie der Eisenbahnarbeiter Hans Końcan. Daneben gab es namenlose Schreiber, die für ihre Familien populäre religiöse Texte verschriftlichten oder kopierten und dafür sorgten, dass die hölzernen und steinernen Grabdenkmale auf den Dorffriedhöfen nach 1863 mit individuellen sorbischen In- oder Aufschriften (Epitaphien) versehen wurden.

Hochzeitszug in Schleife, 1929; Fotograf: Edmund Schneeweis, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Frau in Schleifer Alltagstracht an der Milchrampe, Rohne 1961; Fotograf: Błažij Nawka, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Hochzeitspaar aus dem Kirchspiel Schleife, um 1910; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Begünstigt wurde das Aufblühen einer eigenständigen, wenngleich materiell bescheidenen Volkskultur in der Schleifer Region durch das Wirken einiger volksnaher, sozial denkender und herrschaftskritischer Pfarrer zwischen 1810 und 1938. Pfarrer Jan Wjelan (1810–1852 in Schleife tätig) verbesserte die Obstbaumkultur und übersetzte die Kirchenagende ins Sorbische. Sein Sohn Julius Eduard Wjelan (in Schleife 1852–1892 tätig) stand bereits unter dem Einfluss der sorbischen Nationalbewegung; er schenkte der Gemeinde 1849 eine „Wendische Volksbibliothek“ und war zugleich Dichter und Grafiker. Besonders bemühte er sich um die Beibehaltung des Sorbischen in Kirche und Schule, gab selbst Vorschriften für den Schreibunterricht heraus und ermunterte die Bewohner der Schleifer Region, ihre Muttersprache auch bei Behörden anzuwenden. Sein Nachfolger Matej Handrik (in Schleife 1892–1934) war ebenfalls national geprägt und von der jungen Volkskunde beeinflusst. Er leistete wertvolle Beiträge zur Sammlung und Dokumentation der traditionellen Kultur und Lebensweise. Darüber hinaus wurde zu Handriks Zeit die „Schleifer Liedertafel“ begründet, die ihr Folkloreprogramm, begleitet von Volksmusikinstrumenten (Tarakawa, dreisaitige Geige, Dudelsack), schon um 1900 in Dresden, Görlitz und anderen Städten aufführte. Diese Entwicklung trug nicht nur zur gesteigerten Auszier der Tracht, sondern auch zur Pflege der ererbten Musiktradition bei, die bekannte Volkskünstler wie den Geiger Hans Šuster oder den Dudelsackspieler Bola hervorbrachte (→ Volksmusikanten). Die Alltags- und Festbekleidung entwickelte sich auf barocken Grundlagen bis ins 20. Jh. weiter und blieb in sämtlichen sozialen Bezügen lebendig. In den 1920er Jahren wuchs die Zahl der in- und ausländischen Künstler, Maler, Fotografen und Volkskundler, die sich für die Schleifer Region interessierten. Mit Begriffen wie „altertümlich“ und „romantisch“ bezeichnete man den Schau- und Erlebniswert dieser geschützten, geografisch abgelegenen und kulturell stabilen Insel der Volkskultur. Der sorbische Schriftsteller und Unternehmer Jakub Lorenc-Zalěski siedelte sich 1920 bewusst in Schleife an, um dort ein kreatives und sprachlich intaktes Umfeld für seine Arbeit zu nutzen. Ota Wićaz prägte den Begriff vom „sorbischen Worpswede“ bezüglich der Aufenthalte von Künstlern wie William Krause u. a. (→ Bildende Kunst). Später machte sich der Prozess der inneren Proletarisierung bemerkbar, Berufspendler fuhren in die aufstrebende Glasindustrie nach Weißwasser, in die Papierindustrie der Muskauer Herrschaft und in den Berg-, Straßen- und Schienenbau der näheren Umgebung. Das proletarische Vereinswesen integrierte in Tracht und Sitte zahlreiche Elemente der traditionellen Volkskultur und verhalf der deutschen Sprache zu größerer Ausbreitung.

Evangelische Kirche in Schleife; Fotografin: Iris Brankatschk

Unter politisch widrigen Umständen konnte noch 1936 mit dem polyglotten Pfarrer Gottfried Rösler ein im Schleifer Dialekt geübter Seelsorger für die überwiegend sorbische Gemeinde gewonnen werden. Mit Duldung der schlesischen Kirchenleitung und Hermann Graf Arnims zu Muskau wurde er jedoch kurz vor Ostern 1938 von der Gestapo aus Schleife ausgewiesen.

Wohnhaus in Trebendorf, 1956; Fotograf: Błažij Nawka, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Nach dem Krieg wurde das Sorbische in der Kirche und im Gottesdienst praktisch nicht mehr angewandt. Die sozialistische Schule mit ihrem zweisprachigen Angebot konnte den Verlust nicht ersetzen. In der dörflichen Alltagssprache setzte sich zunehmend das Deutsche durch. Gegenwärtig werden mithilfe des Witaj-Modellprojekts Revitalisierungsversuche der sorbischen Sprache unternommen. Das sorbische Folkloreensemble und weitere Vereine, das sorbische Kulturzentrum in Schleife, das Museum Nepila-Hof in Rohne sowie das Hanso-Schuster-Haus in Trebendorf haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Schleifer Region als eigenständige Kulturregion zu bewahren und zu stärken. Zu den bis heute gepflegten Formen des Brauchtums gehören das „dźěćetko“ in traditioneller Kleidung (→ Weihnachtsbräuche) und das Ostersingen der Frauen („kantorki“, → Osterbräuche). Eine erneute Bedrohung für das ethnokulturelle und ökologische Selbstverständnis der Region stellt der Braunkohlenbergbau dar, dem bereits Teile von Ortschaften und der näheren Umgebung zum Opfer fielen. Trotz beschlossenem Kohleausstieg (voraussichtlich 2038) drohen noch weitere Abbaggerungen.

Lit.: M. Nowak-Neumann / P. Nedo: Die Tracht der Sorben um Schleife, bearb. von A. Lange, Bautzen 1984; Die Folklore der Schleifer Region, Hg. Haus für sorbische Volkskultur, Bände 1–4, Bautzen [1991]; Schleifer Lesebuch. Texte aus zwei Jahrhunderten im sorbischen Dialekt von Schleife und in Deutsch, Hg. H. Rychtaŕ, Bautzen 1995; H. Hantscho: Schleife – Slěpo, Bautzen 1995; Skizzen aus der Lausitz. Region und Lebenswelt im Umbruch, Köln/​Weimar/​Wien 1997; C. Ratajczak: Mühlroser Generationen. Deutsch-sorbische Überlebensstrategien in einem Lausitzer Tagebaugebiet, Münster 2004; P. M. Jahn: Vom Roboter zum Schulpropheten. Hanso Nepila (1766–1856), Bautzen 2010; K. Lorenc: Slěpe/​Schleife – ABC der Chronik, in: K. Lorenc: Im Filter des Gedichts, Bautzen 2013; Daj mi jeno jajko, how maš hobej dwě. Schleifer Liederbuch, [Schleife] 2013.

Metadaten

Titel
Schleifer Region
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Schleifer Region
Autor:in
Jahn, Peter Milan
Autor:in
Jahn, Peter Milan
Schlagwörter
Pfarrei; Kirchspiel; Regionalkultur; Volksliteratur; Volksmusik; Assimilation; evangelische Sorben
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Pfarrei; Kirchspiel; Regionalkultur; Volksliteratur; Volksmusik; Assimilation; evangelische Sorben
Abstract

Gebiet im westlichen Teil der ehemaligen Muskauer Standesherrschaft. Die Schleifer Region zeichnet sich durch eine sprachliche und alltags-kulturelle Sonderstellung aus, die sich im Laufe von vier Jahrhunderten im evangelischen Kirchspiel Schleife ausgeprägt hat.

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Gebiet im westlichen Teil der ehemaligen Muskauer Standesherrschaft. Die Schleifer Region zeichnet sich durch eine sprachliche und alltags-kulturelle Sonderstellung aus, die sich im Laufe von vier Jahrhunderten im evangelischen Kirchspiel Schleife ausgeprägt hat.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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