Schleifer Region um 1790; Karte: Iris Brankatschk
Gebiet im westlichen Teil der ehemaligen Muskauer Standesherrschaft. Die Schleifer Region
zeichnet sich durch eine sprachliche (→ Schleifer Dialekt) und alltagskulturelle Sonderstellung aus,
die sich im Laufe von vier Jahrhunderten im evangelischen Kirchspiel Schleife ausgeprägt hat. Dazu gehören neben
Schleife die Dörfer Groß Düben,
Halbendorf, Trebendorf, Mühlrose, Mulkwitz
und Rohne. Sie waren bewohnt von den
„Heidebauern“ der Herrschaft Muskau,
die dort erst im Spätmittelalter auf überwiegend nasskalten, zur Landwirtschaft
nur wenig und nicht überall geeigneten Sandböden angesiedelt wurden. Bis in die
Mitte des 19. Jh. war die Muskauer Herrschaft „nach altem Herkommen“ zur
kostenlosen Bereitstellung des Baumaterials für Haus und Hof verpflichtet, wobei
die Gebäude in einfacher Schrotholzbauweise (→ Volksbauweise) entstanden. Eng blieb die
ökonomische und emotionale Bindung zum Heidewald, von dem die Schleifer Region
nach allen Seiten umgeben war. Neben der Bienenzucht waren die
Holzverarbeitung, die Waldhutung sowie das Sammeln von Waldfrüchten
wirtschaftlich von Bedeutung, da sie stets den ertragsarmen Ackerbau ergänzten.
Im Westen und Norden verliefen Herrschafts- und Landesgrenzen – Schleife war
über Jahrhunderte Zollstation –, die die naturräumliche Isolation verstärkten.
Der Marktzwang nach dem 10 km entfernten Verwaltungszentrum Muskau konnte nie
durchgesetzt werden. Stattdessen besuchten die Bauern mit Holz und Waldprodukten
den Markt in Spremberg (→ Spremberger Region). Drei im 18. und 19. Jh. verpachtete Vorwerke der
Standesherrschaft in Groß Düben, Mühlrose und Schleife sowie ein Krämereirecht
der Schleifer Kretschmer (→ Kretscham) begünstigten die wirtschaftliche Autonomie der Schleifer
Region.
Die Aufhebung der Erbuntertänigkeit Mitte des 19. Jh. brachte wegen des anhaltenden
Bevölkerungswachstums und schlechter Abfindungen für die Waldberechtigungen kaum
eine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Erst die Industrialisierung v. a. der standesherrlichen Eigenbetriebe nach 1848
trug zur Mehrung des Wohlstands und zum langsamen Kulturwandel bei. Bis zur
Eröffnung der Eisenbahnstrecke zwischen Berlin und Görlitz
1868, die durch Schleife führt, nahmen Fremde die Gegend kaum zur Kenntnis. Um
Erforschung und Sammlung der materiellen Volkskultur (Volkskunst), Folklore und
Mythologie erwarben sich nun
Ulrich Jahn und Wilibald von Schulenburg bleibende
Verdienste. Inspiriert vom Pietismus waren zahlreiche autochthone
Volksschriftsteller tätig, obwohl sorbisches Schreiben vor 1945 in der
Volksschule nicht gelehrt wurde. Bedeutend waren dabei die Bauern Hanso Nepila, Jan Hantšo-Hano, der Kirchenvorsteher Hanzo Šymko sowie der Eisenbahnarbeiter
Hans Końcan. Daneben gab es
namenlose Schreiber, die für ihre Familien populäre religiöse Texte
verschriftlichten oder kopierten und dafür sorgten, dass die hölzernen und
steinernen Grabdenkmale auf den Dorffriedhöfen nach 1863 mit individuellen
sorbischen In- oder Aufschriften (Epitaphien) versehen wurden.
Hochzeitszug in Schleife, 1929; Fotograf: Edmund Schneeweis, Sorbisches
Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Frau in Schleifer Alltagstracht an der Milchrampe, Rohne 1961; Fotograf:
Błažij Nawka, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Hochzeitspaar aus dem Kirchspiel Schleife, um 1910; Sorbisches Kulturarchiv am
Sorbischen Institut
Begünstigt wurde das Aufblühen einer eigenständigen, wenngleich materiell bescheidenen
Volkskultur in der Schleifer Region durch das Wirken einiger volksnaher, sozial
denkender und herrschaftskritischer Pfarrer zwischen 1810 und 1938. Pfarrer
Jan Wjelan (1810–1852 in Schleife
tätig) verbesserte die Obstbaumkultur und übersetzte die Kirchenagende ins
Sorbische. Sein Sohn Julius Eduard
Wjelan (in Schleife 1852–1892 tätig) stand bereits unter dem
Einfluss der sorbischen Nationalbewegung; er schenkte der Gemeinde 1849 eine „Wendische
Volksbibliothek“ und war zugleich Dichter und Grafiker. Besonders bemühte er
sich um die Beibehaltung des Sorbischen in Kirche und Schule, gab selbst
Vorschriften für den Schreibunterricht heraus und ermunterte die Bewohner der
Schleifer Region, ihre Muttersprache auch bei Behörden anzuwenden. Sein
Nachfolger Matej Handrik (in Schleife
1892–1934) war ebenfalls national geprägt und von der jungen Volkskunde
beeinflusst. Er leistete wertvolle Beiträge zur Sammlung und Dokumentation der
traditionellen Kultur und Lebensweise. Darüber hinaus wurde zu Handriks Zeit die
„Schleifer Liedertafel“ begründet, die ihr Folkloreprogramm, begleitet von Volksmusikinstrumenten (Tarakawa, dreisaitige Geige, Dudelsack), schon
um 1900 in Dresden, Görlitz und anderen Städten aufführte.
Diese Entwicklung trug nicht nur zur gesteigerten Auszier der Tracht, sondern auch
zur Pflege der ererbten Musiktradition bei, die bekannte Volkskünstler wie den
Geiger Hans Šuster oder den
Dudelsackspieler Bola hervorbrachte (→ Volksmusikanten). Die
Alltags- und Festbekleidung entwickelte sich auf barocken Grundlagen bis ins 20.
Jh. weiter und blieb in sämtlichen sozialen Bezügen lebendig. In den 1920er
Jahren wuchs die Zahl der in- und ausländischen Künstler, Maler, Fotografen und
Volkskundler, die sich für die Schleifer Region interessierten. Mit Begriffen
wie „altertümlich“ und „romantisch“ bezeichnete man den Schau- und Erlebniswert
dieser geschützten, geografisch abgelegenen und kulturell stabilen Insel der
Volkskultur. Der sorbische Schriftsteller und Unternehmer Jakub Lorenc-Zalěski siedelte sich 1920
bewusst in Schleife an, um dort ein kreatives und sprachlich intaktes Umfeld für
seine Arbeit zu nutzen. Ota Wićaz
prägte den Begriff vom „sorbischen Worpswede“ bezüglich der Aufenthalte von Künstlern wie
William Krause u. a. (→ Bildende Kunst). Später machte
sich der Prozess der inneren Proletarisierung bemerkbar, Berufspendler fuhren in
die aufstrebende Glasindustrie nach Weißwasser, in die Papierindustrie der Muskauer Herrschaft und
in den Berg-, Straßen- und Schienenbau der näheren Umgebung. Das proletarische
Vereinswesen integrierte in Tracht und Sitte zahlreiche Elemente der
traditionellen Volkskultur und verhalf der deutschen Sprache zu größerer
Ausbreitung.
Evangelische Kirche in Schleife; Fotografin: Iris Brankatschk
Unter politisch widrigen Umständen konnte noch 1936 mit dem polyglotten Pfarrer
Gottfried Rösler ein im Schleifer
Dialekt geübter Seelsorger für die überwiegend sorbische Gemeinde gewonnen
werden. Mit Duldung der schlesischen Kirchenleitung und Hermann Graf Arnims zu Muskau wurde er
jedoch kurz vor Ostern 1938 von der Gestapo aus Schleife ausgewiesen.
Wohnhaus in Trebendorf, 1956; Fotograf: Błažij Nawka, Sorbisches Kulturarchiv
am Sorbischen Institut
Nach dem Krieg wurde das Sorbische in der Kirche und im Gottesdienst praktisch nicht mehr
angewandt. Die sozialistische Schule mit ihrem zweisprachigen Angebot konnte den
Verlust nicht ersetzen. In der dörflichen Alltagssprache setzte sich zunehmend
das Deutsche durch. Gegenwärtig werden mithilfe des Witaj-Modellprojekts
Revitalisierungsversuche der sorbischen Sprache unternommen. Das sorbische
Folkloreensemble und weitere Vereine, das sorbische Kulturzentrum in Schleife,
das Museum Nepila-Hof in Rohne sowie das Hanso-Schuster-Haus in Trebendorf haben
es sich zur Aufgabe gemacht, die Schleifer Region als eigenständige Kulturregion
zu bewahren und zu stärken. Zu den bis heute gepflegten Formen des Brauchtums
gehören das „dźěćetko“ in traditioneller Kleidung (→ Weihnachtsbräuche) und das Ostersingen
der Frauen („kantorki“, → Osterbräuche). Eine erneute Bedrohung für das ethnokulturelle und
ökologische Selbstverständnis der Region stellt der Braunkohlenbergbau dar, dem bereits Teile von Ortschaften und der
näheren Umgebung zum Opfer fielen. Trotz beschlossenem Kohleausstieg
(voraussichtlich 2038) drohen noch weitere Abbaggerungen.
Lit.: M. Nowak-Neumann / P. Nedo: Die Tracht der Sorben um Schleife, bearb. von
A. Lange, Bautzen 1984; Die Folklore der Schleifer Region, Hg. Haus für
sorbische Volkskultur, Bände 1–4, Bautzen [1991]; Schleifer Lesebuch. Texte aus
zwei Jahrhunderten im sorbischen Dialekt von Schleife und in Deutsch, Hg. H.
Rychtaŕ, Bautzen 1995; H. Hantscho: Schleife – Slěpo, Bautzen 1995; Skizzen aus
der Lausitz. Region und Lebenswelt im Umbruch, Köln/Weimar/Wien 1997; C.
Ratajczak: Mühlroser Generationen. Deutsch-sorbische Überlebensstrategien in
einem Lausitzer Tagebaugebiet, Münster 2004; P. M. Jahn: Vom Roboter zum
Schulpropheten. Hanso Nepila (1766–1856), Bautzen 2010; K. Lorenc:
Slěpe/Schleife – ABC der Chronik, in: K. Lorenc: Im Filter des Gedichts, Bautzen
2013; Daj mi jeno jajko, how maš hobej dwě. Schleifer Liederbuch, [Schleife]
2013.