Konzept der geistig-kulturellen Verwandtschaft aller slawischen Völker, entwickelt in der ersten Hälfte des 19. Jh. Im allgemeinen Sinne kann von s. W. schon im 17. und 18 Jh. gesprochen werden, als Gelehrte verschiedener slawischer Länder die ethnische und sprachliche Zugehörigkeit zur »Natio Slavica« erkannten. Der Begründer der os. Schriftsprache Michał Frencel bekundete um 1700 als erster Sorbe ein Bewusstsein slawischer Gemeinsamkeit. Das Programm blieb stets weitgehend auf die → Oberlausitz beschränkt, in der → Niederlausitz fand es keinen Widerhall.
Ján Kollár (1793–1852); České album, sbírka podobizen předních českých velikánů, mužů i žen práce, kteří život svůj zasvětili povznesení národa svého; Jan Vilímek, Public domain, via Wikimedia Commons
Bes. die Schriften von Johann Gottfried Herder, der in den Slawen die Träger einer zukünftigen Weltkultur erblickte, erweckten bei slawischen Intellektuellen das Interesse an der eigenen Volksüberlieferung und an der Muttersprache. Der Slowake Ján Kollár knüpfte daran an und entwickelte ein Programm der geistig-kulturellen Zusammenarbeit, das die Slawen auf eine höhere Kulturstufe heben sollte. Es bedeutete für ihn vor allem »die gemeinschaftliche Teilnahme aller Volkszweige an den geistigen Erzeugnissen ihrer Nation (…), wechselseitiges Kaufen, Lesen der in allen slawischen Dialekten herausgegebenen Schriften und Bücher« mit dem Ziel, dass »jede Mundart (…) neue Lebenskraft aus der anderen schöpfen (soll), um sich zu verjüngen, zu bereichern und zu bilden und nichtsdestoweniger die andern nicht antasten und sich auch nicht antasten lassen.« (1837) Das Wesen der s. W. bestand somit in der kulturellen und ethnischen Komponente, im wissenschaftlichen und kulturellen Austausch. Gleichzeitig betonte Kollár, dass es nicht um eine politische Vereinigung aller Slawen ginge. Sein Programm stellte eine spezifische Form der nationalen Befreiungsideologie der damals abhängigen slawischen Völker dar und wurde als Ausdruck ihres gemeinsamen Kampfes gegen die gewaltsame → Assimilierung durch dt. und ungarische herrschende Kreise begriffen.
Programmatische Schrift von Ján Kollár, 2. Auflage 1844
Für die Sorben, die als kleinstes slawisches Volk von Germanisierung und Entnationalisierung existenziell bedroht waren, bedeutete der Ausbau von kulturellen Kontakten zu den Nachbarn eine unabdingbare Stütze im Ringen um den Fortbestand des Ethnikums. Diese Beziehungen bereicherten nicht nur die eigenen Erfahrungen, sondern trugen auch zu einem Ausgleich des Kulturniveaus bei. Aus der These, dass die Slawen ein kulturelles und ethnisches Ganzes seien, schlossen die beiden führenden Vertreter der sorb. → Nationalbewegung des Vormärz, Jan Arnošt Smoler und Jan Pětr Jordan, dass das Slawentum über große geistige Kraft verfügen müsse. Schon deshalb stehe jedem einzelnen Zweig der Sprachfamilie eine glückliche Zukunft bevor. Das Bewusstsein, im Abwehrkampf gegen nationale Unterdrückung nicht allein zu sein, gab bes. den kleinen Völkern die nötige moralische Kraft zum Widerstand und half ihnen, das latente Gefühl der Schwäche und Isolation zu überwinden. Bald begannen daher die Sorben, einzelne von Kollár aufgestellte Postulate wie die Pflege der Muttersprache, das Studium anderer slawischer Sprachen, den Austausch von Büchern und → Zeitschriften oder die Forcierung von Volksforschung und Volksbildung in der Praxis umzusetzen.
Führende Vertreter des sorb. Bildungsbürgertums ließen sich im Vormärz von der Idee der s. W. leiten, der → Leipziger Jurastudent Korla Awgust Mosak-Kłosopólski bezeichnete sie gar als »unser Gesetz, unser Evangelium«. Sie strebten danach, die Sorben nach dem Vorbild anderer slawischer Völker aus ihrer Lethargie zu erwecken und sie stärker in den Prozess der nationalen → Wiedergeburt einzubeziehen, nachdem sie erkannt hatten, dass ihr Volk genügend kulturelle Potenzen besaß. Die gesellschaftlichen Veränderungen im östlichen Deutschland, v. a. die Beseitigung der Feudalherrschaft auf dem Lande und die Liberalisierung der Herrschaftsverhältnisse seit den 1830er-Jahren, bildeten einen günstigen Nährboden für alle Kulturbemühungen, namentlich im Königreich Sachsen.
Brief von Ľudovit Štúr an den sorbischen Gymnasiastenverein Societas slavicae Budissiniensis, 30.5.1839; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Bedeutung für die Verbreitung der Idee der s. W. erlangten neben der umfangreichen Korrespondenz und den ausgedehnten Studienreisen in die jeweiligen Länder die neu gegründeten Gymnasial- und Studentenvereinigungen. 1839 entstand am Gymnasium in → Bautzen der Verein Societas Slavica Budissinensis. Die kath. sorb. Studenten und Schüler gründeten 1846 am → Wendischen Seminar in → Prag die Vereinigung → Serbowka, ab 1838 entwickelte sich in Breslau der Akademische Verein für lausitzische Geschichte und Sprache zu einer wichtigen Begegnungsstätte innerhalb Preußens.
1841 schlossen sich mehrere Sorben in Leipzig zu einem Sorbisch-slawischen Verein zusammen, um slawische Sprachen zu erlernen und die Bedingungen in den slawischen Ländern zu studieren. 1841 umriss Smoler das Programm der sorb. Bewegung im Vormärz, das Kontakt und Austausch mit anderen slawischen Völkern, das Erlernen der jeweiligen Sprachen, Zeitungsgründungen sowie eine bessere Information vorsah. Hier zeigte sich, wie sehr sich die Führer der sorb. Wiedergeburt von Kollárs Idee leiten ließen. Bald sollten sich auch in der Lausitz erste Ergebnisse der Bestrebungen um einen nationalen und kulturellen Aufschwung zeigen.
In der zweiten Hälfe des 19. Jh. wurde der Kulturgedanke der s. W. deutscherseits von einem romantischen in einen politischen → Panslawismus umgedeutet, der den Zielen des russischen Zarenreiches dienen würde. Seit den 1840er-Jahren wurden die Sorben mit panslawistischen Vorwürfen konfrontiert. Die Konflikte erreichten nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 ihren Höhepunkt und beeinträchtigten spürbar die sorb. Aktivitäten. – Die Tradition der slawischen Gemeinsamkeit nahmen im 20. Jh. einige → Freundesgesellschaften wieder auf.
Lit.: J. Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation, Pesth 1837; P. Kunze: Die Bedeutung der slawischen Wechselseitigkeit für die sorbische nationale Wiedergeburt, in: Lětopis 40 (1993) 1; B. Neuland: Die Aufnahme Herderscher Gedanken in Ján Kollárs Schrift »Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation«, in: Deutschland und der slawische Osten. Festschrift zum Gedenken an den 200. Geburtstag von Ján Kollár, Jena 1994.
Metadaten
Konzept der geistig-kulturellen Verwandtschaft aller slawischen Völker. Der Begründer der obersorbischen Schriftsprache Michał Frencel bekundete um 1700 als erster Sorbe ein Bewusstsein slawischer Gemeinsamkeit.
Konzept der geistig-kulturellen Verwandtschaft aller slawischen Völker. Der Begründer der obersorbischen Schriftsprache Michał Frencel bekundete um 1700 als erster Sorbe ein Bewusstsein slawischer Gemeinsamkeit.