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Interferenz
von Sonja Wölkowa, Joachim Wiese und Anja Pohončowa

Durch Sprachkontakt verursachte Beeinflussung einer Sprache oder Sprachvarietät durch eine andere, was sich durch Übernahme von bestimmten Elementen, Merkmalen und Regeln äußert. Interferenzerscheinungen, die zunächst als Verstöße gegen die Sprachnorm gelten, können in das Sprachsystem der Zielsprache integriert werden (Transferenz) und damit Sprachwandel auslösen.

Das Sorbische steht seit mehr als 1 000 Jahren im Kontakt mit dem Deutschen, zunächst vermittelt durch die Deutschkenntnisse einer Bildungsschicht und seit der Wende vom 19. zum 20. Jh. durch kollektive asymmetrische Zweisprachigkeit (nur die Sorben sind zweisprachig). Erwartungsgemäß lassen sich zahlreiche Interferenzwirkungen in beiden Richtungen feststellen. Die Interferenz kann alle Ebenen des Sprachsystems betreffen, wobei sie sich zuerst in Form von Entlehnungen im Wortschatz zeigt. Zur ältesten Schicht von deutschen Lehnwörtern im Sorbischen zählen z. B. obersorb., niedersorb. pjenjez ,Münze‘ (< ahd. pfenning) und obersorb., niedersorb. myto ,Lohn‘ (< althochdt. mūta ,Maut‘) sowie zahlreiche Wörter aus dem Bereich der christlichen Terminologie (obersorb. cyrkej, niedersorb. cerkwja ,Kirche‘, obersorb. wołtar, niedersorb. hołtaŕ ,Altar‘). Solche frühen Entlehnungen sind meist in die Schriftsprache integriert, lautlich und morphologisch adaptiert (vgl. obersorb. bleša ,Flasche‘, niedersorb. žyźe ,Seide‘ < mittelhochdt. sīde) oder bewahren den ursprünglichen deutschen dialektalen Lautstand (niedersorb. zejpa ,Seife‘ < mittelniederdt. sēpe). Spätere Entlehnungen aus dem Neuhochdeutschen blieben infolge puristischer Sprachpolitik häufig auf die Dialekte bzw. die Umgangssprache beschränkt, v. a. gilt dies für das Obersorbische (umgangssprachlich hól(o)wać ,holen‘, měrk(o)wać ,merken‘, šrawpštok ,Schraubstock‘). Auch die Aufnahme von Internationalismen und Fremdwörtern (besonders Anglizismen) in neuerer Zeit ist in der Regel auf den deutsch-sorbischen Sprachkontakt zurückzuführen. Typisch für die nicht standardsprachliche Kommunikation von Zweisprachigen sind situationsbedingte Ad-hoc-Entlehnungen bis hin zur sog. Sprachumschaltung (Code-Switching), wobei die Grenze zu den ins Sorbische integrierten Lehnwörtern fließend ist.

Dialektale Bezeichnungen für „Pfifferling“ im Deutschen; Illustration aus: „Der Niedersorben Wendisch“ (2003)

Interferenzerscheinungen auf dem Gebiet der Grammatik betreffen z. B. die Verwendung der Pronomina obersorb. tón, ta, to, niedersorb. ten, ta, to in Artikelfunktion oder die Herausbildung von Passivformen mit dem Lehnwort obersorb. wordować, niedersorb. wordowaś ,werden‘ (obersorb. wón jo sej tu nohu złamał ,er hat sich das Bein gebrochen‘; niedersorb. pótom wordujo blido wurumowane ,dann wird der Tisch abgeräumt‘). Beide Erscheinungen betreffen heute meist nur die Volkssprache (Umgangssprache und Dialekte). Auf deutschen Einfluss ist in beiden Schriftsprachen der Schwund des präpositionslosen Instrumentals zurückzuführen (stets mit Präposition: obersorb. pisam z pisakom, niedersorb. pišom z pisakom, vgl. deutsch ,ich schreibe mit einem Stift‘), ebenso Veränderungen in der Wortfolge, die insbesondere im Obersorbischen zur regelmäßigen Verwendung von Satzrahmenkonstruktionen geführt haben. In der Wortbildung äußert sich die Interferenzwirkung des Deutschen z. B. in der Zunahme von Komposita (obersorb. ryćerkubło ,Rittergut‘, obersorb., niedersorb. prochsrěbak ,Staubsauger‘) und in der Bildung von umgangssprachlich markierten sog. Partikelverben (niedersorb. prědkcytaś ,vorlesen‘, obersorb. horjećahnyć ,aufziehen‘). Phonetisch macht sich deutscher Einfluss im Obersorbischen in den letzten Jahrzehnten zunehmend bei der jüngeren Generation bemerkbar, so in der nicht adaptierten Aussprache deutscher Lehnwörter mit im Sorbischen fremden Lautmerkmalen (deutsche Umlaute ö, ü, Vokalquantität), in der vokalisierten Aussprache von r nach Vokalen (poɐst statt porst ,Finger‘), im Schwund der rückwirkenden Stimmhaftigkeitsassimilation (wopdźěłać statt wobdźěłać) oder in der labiodentalen Aussprache von w wie im Deutschen statt (u-ähnlicher bilabialer Laut). Im Niedersorbischen, das schon seit mehreren Jahrzehnten meist nur noch als Zweit- bzw. Fremdsprache nach dem Deutschen erworben wird, ist der Einfluss des deutschen Lautstands noch weiter verbreitet.

Ebenso sind die von den zweisprachigen Sorben in der Ober- und Niederlausitz gebrauchten deutschen Sprachvarietäten von Interferenzmerkmalen geprägt. Dies betrifft vor allem Phonetik, Grammatik und Syntax, in geringerem Maße den Wortschatz, da sorbische Lehnwörter die Kommunikation mit einsprachig Deutschen stören würden.

Darstellung des deutschen Lehnwortes „bleša“ im Obersorbischen aus: H. H. Bielfeldt „Die deutschen Lehnwörter im Obersorbischen“ (1933)

Als typische Erscheinung der phonetischen Interferenz in sorbisch-deutsche Richtung gilt z. B. der Schwund bzw. der unsichere Gebrauch des h im Anlaut (Niederlausitz: Andfeger, Arke, Uhn; Oberlausitz: at, geiert ,gehört‘). Diese h-Reduktion ist besonders in der Niederlausitz verbreitet. Hier findet sich auch unetymologisches h wie in Hacker, Hochse, Higel; ier astu Schniete, komm hessen. Diese Erscheinung hält sich in der Niederlausitz noch nach dem Sprachwechsel bei einsprachig Deutschen als Substraterscheinung. Weitere Merkmale des sorbischen Akzents im Deutschen sind die Stimmhaftigkeitsassimilation nach sorbischem Vorbild (tiždekn für Tisch decken, dazgras statt das Gras), Unregelmäßigkeiten bei der Unterscheidung von Lang- und Kurzvokalen (Oberlausitz: fuhter holln ,Futter holen‘, Niederlausitz als Substraterscheinung: Schniete, Hoff statt Schnitte, Hof), bilabiale Aussprache von w (u̯as statt was). Typisch im Bereich der grammatischen Interferenz sind das Fehlen des Artikels (Niederlausitz: steckt eich Stulle ein, Oberlausitz: Tür ist aufgeblieben), die häufige Anwendung präfigierter Verben anstelle von Simplizia (ist das Schwein ausgemästet, dann wird es abgeschlachtet, vgl. obersorb. wukormić, zarězać), die doppelte Verneinung (ich habe nirgends keinen Pilz gefunden), abweichender Gebrauch des Reflexivpronomens auf der Grundlage der sorbischen Verbformen (machte sich die Tür auf statt wurde aufgemacht, vgl. obersorb. durje so wočinichu; er lacht sich mir statt er lacht mich aus, vgl. niedersorb. smjaś se někomu, obersorb. smjeć so někomu). Eine sorbische Grundlage hat auch der Gebrauch von sich statt mich und uns bei reflexiven Verben (Niederlausitz: ich bedanke sich, Oberlausitz: (wir) mussten ... sich Stelle suchen). Die Häufigkeit obersorbisch-deutscher phonetischer und grammatischer Interferenzerscheinungen hat seit 1945 deutlich abgenommen, während umgekehrt die Einwirkung des Deutschen auf das Sorbische wächst.

Sorbische Einflüsse im deutschen Wortschatz sind in der Niederlausitz in größerem Umfang zu verzeichnen als in der Oberlausitz. Auch halten sich lexikalische Entlehnungen noch nach dem Übergang zur deutschen Einsprachigkeit im regionalen Sprachgebrauch. Neben Reliktwörtern wie Dese ,Backtrog‘ (Ober- und Niederlausitz), Paprosch ,Farn, Farnkraut‘ (Niederlausitz), Braschka ,Hochzeitsbitter‘ (Oberlausitz) sind Rückentlehnungen belegt wie Heduschka ,Knöterich, Ackerwinde‘ aus niedersorb. hejduška ,Buchweizen‘ zu deutsch Heide und Lumpack ,Lumpensammler, Taugenichts‘ aus sorb. lumpak zu deutsch Lump (beides Niederlausitz). Zu nennen sind ferner Lehnübersetzungen wie Leinenschlinke ,zum Bleichen ausgelegtes Leinen‘ zu šlinka płatu (Niederlausitz) oder der Hund macht dir nichts (obersorb. činić ,tun, machen‘). Sorbische Wortelemente enthalten in der Niederlausitz Hahnak ,Hahn‘, Nakatz ,nackter Mensch, Hemdenmatz‘ und Flöteraue ,Weidenflöte‘ nach dem gleichbedeutenden Batzaue (niedersorb. barcawa).

Die obersorbisch-niedersorbische Interferenz betrifft nur die Schriftsprache. Gründe sind die bewusste Annäherung der niedersorbischen Schriftsprache an das Obersorbische, daneben Slawisierungsbestrebungen, Wortschatzausbau und individuelle Sprachinterferenzen. Entsprechende Einflüsse sind z. T. in der Morphologie, besonders aber im Wortschatz festzustellen. In den niedersorbischen Texten lassen sich reguläre, dem Lautstand des Niedersorbischen angepasste (obersorb. hajić > niedersorb. gajiś ,pflegen, hegen‘, obersorb. kedźbu > niedersorb. kejźbu ,Achtung‘) und nicht reguläre Entlehnungen (čitaŕ ,Leser‘, pśinošk ,Beitrag‘, rozprawa ,Bericht‘) nachweisen, wobei Letztere schließlich entweder grafisch und phonetisch adaptiert (cytaŕ, pśinosk, rozpšawa) oder aufgegeben wurden (hudźba > muzika ,Musik‘). Etablierte, aber nicht reguläre obersorbische Lehnwörter sind tysac ,tausend‘ und kraj ,Land‘ (nach niedersorbischem Lautstand eigentlich *tysec bzw. *kšaj).

Darstellung des obersorbischen Lehnwortes „składnosć“ im Niedersorbischen aus: A. Pohontsch „Der Einfluss obersorbischer Lexik auf die niedersorbische Schriftsprache“ (2003)

Bis 1945 war obersorbischer Einfluss im Niedersorbischen eine Randerscheinung und betraf nur einzelne Wörter. Danach erfolgte unter obersorbischer Einwirkung eine Veränderung der lexikalischen Norm der niedersorbischen Schriftsprache: Obersorbische Lehnwörter traten an die Stelle deutscher Lehnwörter (lazowaś > cytaś ,lesen‘), zeitweise wurden niedersorbische Wörter durch obersorbische ersetzt (pódwjacor > zapad ,Westen‘). Es erfolgte ein Umbau in der Struktur der deutschen Lehnübersetzungen (z. B. Ersatz von Partikelverben durch Verben mit regulärem Präfix: wen dawaś > wudawaś ,herausgeben‘), vermehrt traten Kopulativkomposita vom Typ molaŕ-spisowaśel sowie sog. o-Komposita (swětonaglěd ,Weltanschauung‘) auf, die Adaption von Substantiven und Verben französisch-lateinischer Herkunft erfolgte nach obersorbischem Vorbild. Deverbale Substantive auf -nje, -śe, -mo, wurden zugunsten von Nullableitungen (pódpismo > pódpis ,Unterschrift‘) oder obersorbischen Lehnwörtern aufgegeben (pódejźenje > pódawk ,Ereignis‘). Seit den 1970er und verstärkt seit den 1990er Jahren ist ein gegenläufiger Prozess der Verdrängung obersorbische Einflüsse zu verzeichnen (→ Sprachpurismus).

Die Beeinflussung des Obersorbischen durch das Niedersorbische ist marginal und erfolgte besonders im 19. Jh. infolge slawisierender Tendenzen (mordar > kuna ,Marder‘) oder des Strebens nach größerer Exaktheit (skaženy > sćekły, vgl. niedersorb. sćakły ,tollwütig‘).

Lit.: H. H. Bielfeldt: Die deutschen Lehnwörter im Obersorbischen, Leipzig 1933 (Reprint Nendeln 1968); E. Eichler: Wörterbuch der slawischen Elemente im Ostmitteldeutschen, Bautzen 1965; S. Michalk/​H. Protze: Studien zur sprachlichen Interferenz, Band I und II, Bautzen 1967, 1974; K. Müller: Slawisches im deutschen Wortschatz, Berlin 1995; A. Pohontsch: Der Einfluss obersorbischer Lexik auf die niedersorbische Schriftsprache. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der niedersorbischen Schriftsprache, Bautzen 2003; M. Bayer: Sprachkontakt deutsch-slavisch, Frankfurt am Main u. a. 2006; L. Scholze: Das grammatische System der obersorbischen Umgangssprache im Sprachkontakt, Bautzen 2008; H. Bartels: Lehnwörter im Niedersorbischen, in: Lětopis 56 (2009) 1.

Metadaten

Titel
Interferenz
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Interferenz
Autor:in
Wölkowa, Sonja; Wiese, Joachim; Pohončowa, Anja
Autor:in
Wölkowa, Sonja; Wiese, Joachim; Pohončowa, Anja
Schlagwörter
Sprache; Obersorbisch; Niedersorbisch; Deutsch; Tschechisch; Polnisch; Sprachkontakt; Mehrsprachigkeit; Sprachwissenschaft
Schlagwörter
Sprache; Obersorbisch; Niedersorbisch; Deutsch; Tschechisch; Polnisch; Sprachkontakt; Mehrsprachigkeit; Sprachwissenschaft
Abstract

Durch Sprachkontakt verursachte Beeinflussung einer Sprache oder Sprachvarietät durch eine andere, was sich durch Übernahme von bestimmten Elementen, Merkmalen und Regeln äußert.

Abstract

Durch Sprachkontakt verursachte Beeinflussung einer Sprache oder Sprachvarietät durch eine andere, was sich durch Übernahme von bestimmten Elementen, Merkmalen und Regeln äußert.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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